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«Ganz viele Menschen sagen: Ich habe eigentlich nicht Angst vor dem Tod, ich habe Angst vor dem Sterben.»

Interview mit Palliativ-Mediziner Dr. Roland Kunz

Roland Kunz gilt als Pionier der Palliative-Care-Szene in der Schweiz. Seit über 30 Jahren forscht und praktiziert er in der Palliativmedizin. Kaum hatte er sein Medizinstudium abgeschlossen, erkrankte sein Vater an Darmkrebs. Zwei Jahre lang musste Roland Kunz mit ansehen, wie hilflos die Medizin dem Leiden gegenüberstand. «Ich habe als junger Arzt einen Teil der Pflege zu Hause übernommen. Der Tod meines Vaters hat meine Beziehung zum Sterben nachhaltig beeinflusst.»

Heute sagt Roland Kunz: «Es gibt kaum ein Thema, das mit grösseren Missverständnissen behaftet ist als das Sterben. Fragt man zum Beispiel die Leute, ob sie in gegebenem Fall reanimiert werden möchten, bejahen das viele. Wenn man ihnen jedoch erklärt, dass man sie dafür – wenn sie friedlich im Sterben liegen – aus dem Bett reissen, auf den Fussboden legen und ihren Brustkorb pro Minute hundertmal pressen müsse, sodass dabei Rippen brechen können, ändern die meisten ihre Meinung.»

Palliative Care bleibt von diesen Missverständnissen nicht verschont. So sagte Roland Kunz 2015 dem Zürcher Tages-Anzeiger: «Erster Irrtum: Palliative Care führt direkt zum Sterben. Zweiter Irrtum: Man macht einfach nichts mehr. Diese Vorstellung ist auch unter Ärzten und Pflegenden noch erstaunlich weit verbreitet.» So engagiert sich Roland Kunz schweizweit als Botschafter für Palliative Care.

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«Ich glaube, es ist ein etwas falsches Verständnis, wenn wir denken, es geht als Arzt vor allem darum, Leben zu erhalten. Es gibt ganz unterschiedliche Dinge, die im Fokus stehen. Beim Einen kann es durchaus sehr wichtig sein, dass wir versuchen, sein Leben zu stärken und zu erhalten. Bei einem Anderen ist es wichtig, dass wir mit ihm einen Weg finden, trotz der Krankheit noch ein gutes Leben zu finden. Das heisst, auf die Lebensqualität zu fokussieren – auf die Ziele, die dem Patienten in dieser Situation noch wichtig sind.

Mein Vater wurde schwer krank, als ich am Ende meiner Ausbildung zum Arzt war, und ich habe miterlebt, wie die Medizin relativ hilflos damit umgegangen ist. Das hat sicher meine Beziehung zum Tod, meine Beziehung zum Sterben nachhaltig geprägt. Das ist etwas, das bis heute nachwirkt.

Es ist jedes Mal etwas Berührendes für mich, es ist jedes Mal etwas, das...ja, es lässt einem im Moment einfach still werden und ich glaube, es ist häufig auch für die Angehörigen wichtig, dass jemand in dem Moment da ist, der eine gewisse Sicherheit gibt, ohne dass man viele Worte braucht.

Ich muss auch unsere Mitarbeiter immer wieder daran erinnern: Für uns ist es eine gewisse Routine, für die Angehörigen ist es eben sehr oft das erste Mal, es ist etwas Einzigartiges. Etwas, das uns hilflos zurücklässt. Und dass wir wirklich auch ganz banale, praktische Dinge den Angehörigen sagen müssen, weil die Angehörigen sich ja oft auch nicht truen; sie sitzen irgendwo in einer Ecke des Zimmers und schauen, was da passiert und getrauen sich kaum, ans Bett zu gehen. Und je mehr technische Einrichtungen beim Patienten sind wie irgendwelche Infusionen oder Pumpen, desto mehr halten sich die Angehörigen zurück. Ich glaube, da ist es unsere Aufgabe, da ein bisschen eine Brücke zu bauen, dass man sich getraut, den sterbenden Menschen zu berühren, ihm auch noch etwas zu sagen. Dass man die Angehörigen ermuntert, das noch zu sagen, was ihnen wichtig ist – denn ich bin überzeugt, dass mehr noch ankommt beim Sterbenden, als er vielleicht durch seine Reaktion zeigen kann.

Wenn ich mit unseren Patienten spreche und frage ‚Haben Sie Angst vor dem, das auf Sie zukommt?’, dann sagen ganz viele Menschen ‚Ich habe eigentlich nicht Angst vor dem Tod, ich habe Angst vor dem Sterben.’. Sie haben Angst vor dem Prozess, der stattfindet. Es gibt eine Phase, in der ich keine Kontrolle mehr habe, was mit mir passiert. Und wenn wir die Patienten über die Möglichkeiten der Palliativmedizin informieren, dass niemand ersticken muss, dass wir die Schmerzen wirklich auch am Ende noch sehr wirkungsvoll behandeln können, dann können wir viel von dieser Angst nehmen.

Das Erstaunliche ist, dass ich noch nie von jemandem gehört habe, dass das ein beängstigendes Erlebnis war, ein beängstigendes Gefühl. Es sind unterschiedliche Bilder, die Leute erzählen, aber es hat meistens etwas mit Licht zu tun, mit einem "sich aufgehoben fühlen", und ich glaube, das ist eine tröstliche Aussicht und gerade für Menschen, die Angst vor dem Sterben haben, bin ich froh, dass ich Ihnen über solche Erlebnisse von Anderen berichten kann.

Die Frage, was ist nachher, wo bin ich, bin ich noch? – das ist ja eine Frage, die wahrscheinlich die meisten Menschen beschäftigt. Ich habe keine bildlichen Vorstellungen, wo ich mal sein werde. Ich bin überzeugt, dass es nicht fertig ist für mich, wenn ich sterbe, dass es in irgendeiner Form weitergehen wird. Ich glaube aber nicht, dass es in einer Form weitergeht, wie wir uns das vielleicht als Kinder ausgemalt haben, sondern dass es in einer neuen Dimension weitergeht, einer Dimension, die wir eigentlich mit unserem menschlichen Verstand uns gar nicht vorstellen können, und die eben auch irgendwo losgelöst ist von Zeit und Ort und all dem. Von dem her denke ich, das hat ja auch etwas Spannendes, zu sterben und zu sehen, wie diese Dimension dann aussieht.»