Letzte Reise

«Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass es Menschen gibt, die noch bis in die letzte Stunde ihres Lebens lernen.»

Interview mit Schriftsteller André Winter

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete er auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle und in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.

Im März 2018 erscheint André Winters Buch «Immer heim» (Buchvorschau als PDF-Datei).

Video-Transkript

«Meine erste Erfahrung mit dem Tod habe ich mit vierzehn gemacht, als meine Mutter gestorben ist. Sie hatte einen Autounfall. Wir zwei Buben waren zuhause. Sie hatte eine Lungenembolie und starb daran.

Man hat uns angerufen, meine Tante hat uns Buben das gesagt, währen wir im Kinderzimmer auf dem Bett sassen. Es ging sicher drei Stunden – gehört habe ich das schon – meine Mutter sei tot. Aber bis es angekommen ist, vergingen drei Stunden. Bis ich realisiert habe, was überhaupt geschehen ist.

Ich muss auch sagen, dieses Gefühl, das ich hatte, als es wirklich unten angekommen ist, war... ich wartete auf einen Ruck, ich wartete, dass die Erde still steht, dass die Weltkugel nicht mehr weiterdreht. Ich hielt mich wirklich an der Bettkante fest, weil ich darauf wartete, dass es jetzt stillsteht.

Aber nach drei Tagen mussten wir wieder zur Schule, das Leben ging weiter. Das Leben ist immer stärker als der Tod – letztlich war es erst mit dreissig so, als eine Beziehung auseinanderging, dass ich in eine grosse Trauer und Krise gefallen bin. Ich habe bald gemerkt, dass diese Krise nicht mit dieser Beziehung, die auseinanderging, zu tun hatte, sondern dass da der Tod der Mutter – endlich, heute sage ich endlich – heraufgekommen ist. Damals habe ich das natürlich nicht so empfunden.

Ich durfte bei meiner Grossmutter, die gestorben ist, erleben – das war ein Moment, der mir unvergesslich ist – wie sie noch einmal die Augen öffnete und wirklich nochmals jeden mit ihrem Blick verabschiedet hat. Wie sie jeden noch einmal in den Blick genommen hat, aber auch wirklich bei jedem, zumindest kam es mir so vor, wie sie die Liebe zu mir – oder zu diesem Menschen – zurückgezogen hat, um dann auch gehen zu können. Also die Liebe, wie als grösstes Geschenk, das sie im Leben den anderen gemacht hat, jetzt zurücknehmen durfte. Und erst dann konnte sie gehen.

Ich sage es mal so: Alle Narzisten werden Mühe haben mit dem Alter. Und ich denke, in der Tendenz haben wir eher eine narzistisch aufgeladene Gesellschaft. Es ist auf jeden Fall so, dass es viele Verluste geben wird. Und ich finde, "Verlust" muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: "Ver-Lust". Es ist sicher weniger lustig. Aber für mich gibt es auch etwas. Es gibt dieses schöne Zitat, "was ist besser, schon viel hinter sich zu haben oder noch viel vor sich zu haben?" Und ich glaube, alles zu seiner Zeit. Es ist so, dass grosse Entwicklungsaufgaben erst im Alter auf uns zukommen. Aber ich muss auch wieder sagen, ich habe durch meine Ausbildung als Gerontologe, durch die Begleitung als Pflegefachperson immer auch wieder erleben dürfen, dass die Menschen dort einen unglaublichen Reichtum und eine unglaubliche Reife und eine unglaubliche Losgelassenheit, weil sie auch schon viel losgelassen haben, entwickelt haben.

Und diese Gelassenheit, diese Altersweisheit, das erleben zu dürfen von Menschen – dieser Witz auch, dieser Humor, das war auch etwas unglaublich schönes. Etwas, das mir nicht Angst gemacht hat in Bezug aufs Alter, sondern etwas, das mich neugierig gemacht hat.

Ich persönlich wurde am stärksten inspiriert durch Menschen, die selber die Ausstrahlung haben, dass sie etwas lernen würden. Nicht, dass sie einem etwas lehren würden. Sondern sie sind selber am Lernen. Und das hat für mich etwas unglaublich inspirierendes. Nicht angekommen sein, nicht fertig sein, nicht in einer Art und Weise zu meinen, "man habe es jetzt." Sondern immer wieder diese Bereitschaft zu haben, diese Demut wieder zu haben, zu lernen. Und bis am Schluss zu lernen.

Und das muss ich sagen, ich habe immer das Gefühl gehabt, dass es Menschen gab, die noch bis in die letzte Stunde ihres Lebens gelernt haben. Die konnten noch vergeben, sie sind in einen Frieden gekommen, sie sind in eine Ruhe gekommen, sie konnten auch sich selber noch vergeben. Und das meine ich damit, was ich vorher schon gesagt habe, dieser heilende oder heilige Moment, den es immer gibt.

In diesem Sinne ist der Tod schon der "Ermöglicher" von diesem Moment.»